Preußisches Bleisatz-Magazin
Vom Kommenden

24 Stunden Urlaub vom Krebs und von der Pflicht 2.393 views 4

Mir geht immer noch nicht der Tagore-Sinnspruch aus dem Kopf. Ich weiß genau, was er meint. Denn ich kenne diese tiefe Befriedigung und das Gefühl der Freude (damit meine ich nicht „Spaß“), der einen erfüllt, wenn man sein Tagwerk erledigt hat, wie es sein sollte. Ist da ein Widerspruch zu dem Umstand, daß so zwar mein Preußen-Gen Erfüllung findet, aber mein Rheinländer-Charakter nach Befriedigung meines Es schreit?

Oh, Mann…
Ich beginne tatsächlich erst jetzt, mehr als einen Tag nach dieser guten Nachricht, langsam zu begreifen. Die Anspannung und diese distanzierte Einstellung, «was immer passiert, wird nun passieren», weicht nur tröpfchenweisen aus meinem Körper. Ja, es ist wirklich ein körperliches Gefühl, keines im Kopf. Das ist für mich sehr überraschend. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß sich mein Körper immer mehr anspannte in den letzten Wochen.

Gestern habe ich tatsächlich NICHTS gemacht. Wirklich GAR NICHTS. Bin morgens frühstücken gefahren wie jeden Morgen und habe der guten Form halber (Pflichterfüllung und so) meine Schmutzwäsche zur Wäscherei gebracht und die frische Wäsche mitgenommen. Und der Satzmelodie der Wäschereifrau zugehört, die mir von 90° und 60° Wäsche erzählte und dem Anteil von Elastolin, das in meinen Baumwollhemden wohl drin ist, woran man das erkennt und wozu es gut ist. War es gut? Oder schlecht? Ich weiß es gar nicht mehr. Es war nicht wichtig. Es war so… erregend? Tröstlich? Nein. Mich erstaunend. Ja, ich staunte sie an, diese freundliche, einfache Frau, der das Thema so wichtig war. Die mich als neuen Stammkunden festmachen will. Die Banalität dieses kleinen Gespräches beeindruckte mich zutiefst. Ist das Leben? Ja, ich glaube, 90 Prozent oder mehr des Lebens besteht aus diesen kleinen Banalitäten, die ich als so selbstverständlich hinnehme.

Ich habe einen Bagel gegessen beim „Butter-Bäcker“ Winkels, der alles, wirklich alles nur mit „Guter Butter“ backt. Und dachte an meine Tochter, die sich nach jedem Bissen wegen ihrer Butter-Unverträglichkeit krümmen würde vor Bauchschmerz. Ich gehe ungemein gern frühstücken. Mittlerweile mache ich das, bis auf die Wochenenden, jeden Tag. Ich muß einmal täglich ‚raus hier aus dem Tal, indem die immer gleichen Abläufe feste Struktur geben. Muß Menschen schauen, irgendwo am Fenster sitzen oder stehen und nach draussen blicken. Ich glaube, ich werde einen „Frühstücks-Reiseführer“ schreiben und alle Plätze notieren, an denen man hier im Dreh sein Frühstück genießen kann.

Ich war seltsam zerfahren gestern, hatte keine Lust, mich auf irgendetwas zu konzentrieren, begann damit, eine Erzählung zu schreiben, brach sie ab. Ging einmal durch’s Gelände hier, mied aber jedes Gespräch. Schaute nur zu, wie der große 40 Tonner entladen wurde, sah den Mamis zu, die mittags ihre Kleinkinder aus der nahegelegenen Kita abholten. Ein kleiner Junge plärrte mehr rituell, als aus triftigem Grund vor sich hin. «Warum plärrst Du?», will ich ihn im Reflex fragen. Ich frage sie immer. Und fast immer hören sie dann, schluchzend und sich den Rotz im Gesicht verreibend, auf. Heute frage ich nicht. Ich schau nur. Mäßig neugierig die Mami beobachtend, die sich über ihren Junior beugt und ihn an ihre Brust drückt. Wie schön. Rein subjektiv betrachtet, ist doch ihm sein Elend sicher eben so arg, wie mir das meine noch gestern war. Wie relativ der Schrecken ist. Und siehe: Die Welt dreht sich weiter. Heute, ja heute dreh‘ ich wieder mit.

Tagore hatte gestern Pause. Ich hab’s lieber mit André Heller gehalten:

  1. Kommentar by Thomas Kersting — 24. Juni 2010 @ 11:28

    Zufällig war ein Freund letzte Tage in Ihrem Tal der „grünen Hölle“, um ein paar Filmaufnahmen von der Ludmilla zu machen. So wird die Diesellokbaureihe 232 genannt, die in den 70-80igern von Russland an die ehemalige Deutsche Reichsbahn (Ost) geliefert wurde.
    http://www.youtube.com/watch?v=E4UZLnbJtTs&playnext_from=TL&videos=7uJj6RpRCac&feature=sub

    Laut einem Abkommen im RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) durfte der damalige Arbeiter- und Bauernstaat DDR selbst keine Großmaschinenanlagen mehr herstellen und musste die großen Lokomotiven vom „Freund“ kaufen.

    Die Konstruktion war eigentlich kräftig und robust, nur die Verarbeitung und die verwendeten Bauteile waren schlecht, so dass die neu gelieferten Maschinen bald nach den ersten Einsätzen schadhaft abgestellt werden mussten und von der DR (Ost) zuerst einer Generalüberholung unterzogen wurden. Nach Beseitigung der Kinderkrankheiten hat sich die Lokomotive dann bis heute bewährt.

    Das mal als Info zu den an Ihrem Fenster vorbeidröhnenden Russen!

  2. Kommentar by Preuße — 24. Juni 2010 @ 11:42

    Und ich weiß etwas, was Ihr Lokomtiven-Experten nicht wißt:
    Bis in die 70er Jahre hinein betrieb der Bagel-Konzern hier unten nicht, wie heute, eine Großdruckerei, sondern wirklich eine Papiermühle. Deshalb ja auch „Papiermühlenweg“. Vom Parkplatz vor dem Betrieb hier gesehen direkt hinter den Gleisen gab es in der kleinen Senke dort Schöpfbecken für den Papierschlamm, der dort gewässert und gereinigt wurde. Der Transport wurde über eine kleine Lorenbahn mit eigenem Gleis und einer kleinen Diesellok, die über einen großen Treibriemen betrieben wurde.
    Die Lok liegt immer noch in der Senke. Durch Zufall hat ein Nachbar sie im vorletzten Winter, als der „Dschungel“ weg war, dort liegen sehen. Hier vom Fenster, an dem ich gerade sitze, dürfte es nicht mehr als ca. 80 m Dschungel-einwärts sein. Die Lok liegt auf der Seite. Was so ein Teil wiegt, wissen Sie sicher besser als ich. Vielleicht hätten sie hier von der Geschäftsleitung nichts dagegen, wenn Sie sie sich holen? Das kann ich nicht beurteilen. Aber fragen kost‘ nix, oder?

  3. Kommentar by Lara — 24. Juni 2010 @ 13:56

    Ich schaue auch gerne zu, bei Kindergartenabholungen.
    Neulich: Eine Mama immer 10 Schritt voraus, schnelles Tempo.
    Ihr ca. 4-jähriger Sohn musste rennen um Schritt zu halten.
    Er rief unentwegt eindringlich: “ MamiMamiMamiMamiMami!“
    Die Mama schaute sich genervt um, blieb stehen: „WAS denn!?“
    Der Sohn blieb auch stehen, strahlt:“ Meine süße, kleine Mami!“
    Mehr wollte er nicht. Fand ich ziemlich schön.

  4. Kommentar by Thomas Kersting — 25. Juni 2010 @ 02:14

    Werter Kollege Preuße,

    ‚ komme gerade vom Rhein geradelt. Dort gab es einen herrlichen Sonnenuntergang, einen herrlicheren Fastvollmondaufgang und ein ebensolch … frisches – äh, nicht Alt(es) – Kölsch (morgen wird er ganz voll sein, nicht ich – der Mond natürlich!)

    Vielen Dank für Ihren interessanten obigen Hinweis auf die Papiermühlenbahn, dem ich unbedingt nachgehen werde. Es gibt nämlich keine kommerziell gebaute Lokomotive mit Keilriemenantrieb – es sei denn, es ist ein Selbstbau! Die Maschinen wiegen normalerweise von knapp zwei Tonnen an aufwärts und die Bergung aus dem Dschungel dürfte nicht leicht sein. Habe allerdings schon ganz andere Sachen geschafft!

    Jedenfalls fiel mir beim Sonnenuntergang etc. ein, dass wir neben unserem erlernten schönen Beruf noch eine Gemeinsamkeit haben: die Preußen! Seit dem zarten Alter von 14 Jahren jage ich nämlich die Preußen. Oft mehrmals pro Woche bin ich 1973 die 15 Km von Bonn nach Siegburg geradelt, um die preußische G 8 Güterzuglokomotive (Baujahr 1919) mit ihrem Güterzug zur Siegwerk-Druckfarbenfabrik per Fahrrad zu begleiten. Die Lokführer kannten mich, und ich wurde öfters auf der Lok ins – durch Werkschutz geschützte – Siegwerk mitgenommen.

    1974 kam dann die Ausmusterung dieser letzten preußischen G 8-Lokomotiven Gesamtdeutschlands, in Köln-Gremberghoven beheimatet – und sie wurden zur Verschrottung freigegeben. So verlor ich meine erste Freundin! Nun musste zur Preußenjagd der Aktionsradius vergrößert werden: Per Tramper-Monats-Ticket wurde zuerst einmal Süddeutschland unsicher gemacht. In Rottweil war die letzte preußische P 8 Personenzuglokomotive beheimatet, die nach über 50 Dienstjahren 2,8 Millionen Kilometer zurückgelegt hatte (na, wie oft hat sie die Erde umrundet?). Ebenfalls waren dort die letzten zwei preußischen T 18 Personenzugtenderlokomotiven beheimatet.

    Dann wurde die Jagd auf Norddeutschland ausgeweitet. In Hamm und Emden waren die letzten preußischen T 14 Güterzugtenderlokomotiven beheimatet und fristeten ihre restlichen Tage im Rangierdienst. Auf der Emslandstrecke von Rheine nach Norddeich-Mole konnte ich auch noch Hitlers Paradepferde, die ehemals stromlinienverkleideten Schnellzuglokomotiven der Baureihe 01.10, bewundern.

    So heftig meine Bekanntschaft mit den „Preußen“ begonnen hatte, so plötzlich war sie 1975 – nach der Ausmusterung sämtlicher Preußen in Westdeutschland – auch schon wieder vorbei, wenn nicht…, ja wenn ich mich nicht 1984 in meinen Trabant gesetzt hätte und ‚gen Osten gefahren wäre. In Nossen war nämlich die letzte preußische P 10 Personenzugschnellzuglokomotive im Einsatz. Die durch die Deutsche Reichsbahn (Ost) rekonstruierten Lokomotiven – sogenannte Reko-Loks – vereinten alte preußische Tugenden mit modernen technischen Erkenntnissen und zeigten am Beispiel dieser letzten preußischen Konstruktion eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit preußischer Lokomotivbaukunst.

    Die Rückfahrt in die BRD – insbesondere im Todesstreifen zwischen den Wachtürmen – Richtung Westen mit meinem Trabi, verursachte mir doch ein flaues Gefühl in der Magengegend. Man hätte mir ja auch als „Republikflüchtling“ den Trabi unter’m Hintern wegschießen können!

    Ganz so schlimm war es allerdings nicht: Schon bei der Einreise in die „Deutsche Demokratische Republik“ winkte mich in Wartha-Herleshausen ein Bulle von DDR-Grenzbeamtem – der mich sehr an einen Sheriff aus einem amerikanischen B-highway-Movie erinnerte – aus der Schlange der wartenden BMWs, Mercedes‘, Fords usw. heraus und meinte: „Haben Sie im Westen keine besseren Autos?“, dann kam das obligatorische: „Gänsefleisch dän Koffer aufmache?“ Beim Anblick der ganzen Eisenbahn-Zeitschriften mit Fahrplänen u.a., die für meinen Freund im Harz bestimmt waren kam noch: „Sie wissen doch, dass Zeitschriften nicht eingeführt werden dürfen!“ Meine Erwiderung, dass bisher alle Zeitschriften per Post angekommen seien, und er sie eben in den Müll werfen möge, wurde nur noch quittiert: „Na dann nehmen Sie sie eben mit – aber nächstes Mal…!“

    Bei der Ausreise wurde ich zufällig vom selben netten Grenzbeamten aus der Reihe der wartenden BMWs, Mercedes‘, Fords usw. herausgewunken: „Na, haben Sie schöne Fotos von den Lokomotiven gemacht?“ Gleich nebenan wurden bei BMWs, Mercedes‘, Fords usw. die Sitzbänke und Türverkleidungen zur Grenzkontrolle ausgebaut. „Gute Heimreise!“ und ich war Richtung Westen entlassen. Die zwei Kartons Rotkäppchen-Sekt interessierten ihn nicht. Erst der westdeutsche Zollbeamte am anderen Ende der Grenze erwiderte wegen meines Hinweises auf die beiden Kartons: „Das muss ich sehen!“ und kam extra aus seinem Häuschen herausgekrochen und berechnete großzügigerweise nur einen Karton mit elfmarksechzig Zoll!

    Ich möchte das System keinesfalls verherrlichen – ich bin 1974 in Berlin-(Ost)-Wuhlheide von der VP mit Maschinengewehr im Anschlag verhaftet worden wegen Fotografieren militärischer Anlagen. Gerade die 3-D-Kamera von View-Master hatte sie vollkommen verwirrt – daher passte ich auch nicht in das System – und wurde freigelassen. Es sind einfach nur Erinnerungen, die mir heute keinen Nutzen mehr bringen… bis auf: Ich habe sie erlebt!

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