Preußisches Bleisatz-Magazin
Messer raus

Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit… 3.178 views 4

Die Stadt summt wie ein Bienenkorb. Aus allen Richtungen eilen Menschentrauben ins Zentrum — zu Fuß und in allen nur denkbaren Gefährten. Meine Gruppe fährt auf der Ladefläche eines Lkw mit. Die meisten von uns stehen auf der offenen Ladefläche, halten sich an den Metallverstrebungen fest, über die sonst die Persenning gestrafft wird. Die Atmosphäre ist aufgeheizt. Überall sieht man Transparente und Fahnen. Wir führen das Schwarz der Revolution mit uns. Es sind zumeist junge Männer und Frauen, die sich gegenseitig zurufen, manche singen. Im Vorbeifahren höre ich nur Wortfetzen, kann sie nicht identifizieren. Auch auf meinem Wagen singen sie das alte Lied «Ein junges Volk steht auf». Ich fühle mich etwas befremdet, fehl am Platz. Ich weiß, weshalb ich hier bin, aber mir fehlt die Begeisterung der Jungen.

Sie kamen sehr früh am Morgen an meinem Haus vorgefahren. «Wir brauchen Dich, die Rota spinnt. Der Aufruf wird nicht fertig und die Verteiler sind schon da.». Ich weiß sofort, was sie meinen. Die «Rota», eine kleine Rotaprint R70 Schnelldruckmaschine. Eine robuste, unkomplizierte kleine Maschine zur Erstellung von einfachen Drucksachen. Vor drei Monaten hatten sie Kontakt zu mir aufgenommen, brauchten einen Drucker, der ihnen die Maschine erklärt, sie zum Laufen bringt und sie dann «ab und zu einmal» unterstützt, wenn es Probleme gibt. Wie sie mich gefunden haben? Hören-Sagen, der eine hat eine Mutter, die als Buchbinderin arbeitet, die meinte, ich würde so etwas bestimmt… naja, schon. Irgendwie bekomme ich solche Teile schon zum Laufen. Obwohl ich ja — darauf bestehe ich — Schriftsetzer bin, kein Drucker. Aber trotzdem: Was mache ich nun bloß hier auf dieser Lkw-Ladefläche und komme mir vor, wie die Rote Garde auf dem Weg zum Ernteeinsatz? Ich werde jetzt bald 55, Mensch. Zu alt, um wieder solchen politischen Unfug zu machen wie in meinen Jugendjahren.

Schon seit Monaten hatte sich die politische Atmosphäre im Land aufgeheizt. Anlaß: Einberufung der Reservisten-Jahrgänge. Der Fall von Afghanistan vor zwei Jahren hatte eine Kettenreaktion ausgelöst. Usbekistan, Tadschikistan — dort herrschte nun Bürgerkrieg, die Amis und die Nato wurden hinweggefegt von den unter grüner Flagge kämpfenden Gotteskriegern. Die Atom-Macht Pakistan hielt sich nur noch, weil die Amerikaner tausende von GI dorthin gesandt hatten, um das Regime zu stützen. Vor drei Monaten hatten sie dann auch Truppen nach Georgien entsandt. Zu einer «Friedensmission». Um Präsenz gegenüber den Russen zu zeigen, die nicht bereit waren, das Chaos auf sich zukommen zu sehen und es stillschweigend zu dulden. Präsident Hakanschwilli hatte die neue Omnipotenz genutzt und war in das von den Russen beanspruchte Südossetien einmarschiert, hatte blutig unter der dortigen russischen Minderheit gehaust, «Ordnung geschaffen und dem Land Demokratie gebracht», wie er es im Neusprech formuliert hatte. Nun galt der Bündnisfall. Die Amerikaner forderten die Unterstützung der Nato ein, «der Gockel», so der Spitzname, den das Volk in Deutschland für den Herrn Außenminister des BRD-Regimes gefunden hatte, spreizte im Bundestag seinen Kamm und zeigte Muskeln. «Wir stehen gemeinsam mit unseren europäischen Verbündeten Seite an Seite mit den Truppen der Peacekeeping-Force One für die Werte der freiheitlichen westlichen Welt. Wir erfüllen den Bündnisfall.» So kam es zur Einberufung. Und endlich, endlich erhob sie sich, die deutsche Jugend.

Und nun sitze ich hier auf meinem Kasten mit Ersatzteilen für die R70 und halte mich mehr krampfhaft als lässig wie die anderen an der Ladeklappe des Lkw fest. Ich habe so gar nichts von einem Revolutionär. Bin eher ein Mann der Schrift, als einer der Tat. Aber ganz offensichtlich war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über die Situation zu reflektieren, um abzuwägen und die Strategie der kleinen Schritte zu empfehlen. Junge Aktivisten hatten das Heft fest in der Hand, organisierten zivilen Ungehorsam, standen vor den Kasernen und feierten Verbrüderung mit den Eingezogenen. «Wir sind doch alle Deutsche.» — der südländisch aussehende 30jährige, der auf die Männer des Soldatenrates einredet, mag türkischer oder marokkanischer Abstammung sein — er bekennt sich zu Deutschland. Und mir kommen fast die Tränen. Sch… doch auf diesen Rassequatsch. Sch… drauf, auf Herkunft, Stand und Rang. Das Bekenntnis ist, was zählt. Ich bin stolz auf den Kerl.

Der Lkw hält an der letzten Straßensperre vor dem «Volkshaus», wie sie es umbenannt hatten, das bisherige Einwohnermeldeamt der Stadt. In einer Nacht- und Nebelaktion hatten sie es vor einer Woche besetzt, die Beamten und Angestellten nach Hause geschickt und Quartier bezogen. Spontan hatten sich ihnen einige der ehemals dort Arbeitenden angeschlossen. «Nie wieder Krieg. Ich will nicht, daß mein Sohn dort in die Fremde muß für andere.». Im Keller des Gebäudes hatten sie eine kleine Druckerei eingerichtet. Nur wußten sie nicht, wie man die Maschinen bedient. So kam ich zur Revolution. Ein irres Ding.

Dugi kommt von der Straßensperre zurück, die von ein paar Dutzend regierungstreuen Soldaten unter einem Unteroffizier errichtet worden war. Man wollte die Jungen aushungern. Noch war kein Schuß gefallen. «Red‘ mit denen. Mach Ihnen klar, daß wir dort rein müssen.». Scheiße. Auch das noch. Ich wollte nur das Gummituch der R70 erneuern, daß sie kaputtgewichst hatten beim letzten Papierstau. Mensch, was soll das denn? Das ist nicht mein Ding hier. Die Typen haben Knarren und ich habe nicht den Nerv, mir das anzutun. — Aber ich sage nichts, laß mir von der Ladefläche des Lkw helfen, möglichst, ohne meine männliche Würde zu verlieren. Ich kann einfach nicht anders. Bin nicht in der Lage, mich in die Emotion fallen zu lassen wie die Jungen, aufzugehen in ihrer Begeisterung und ihrem Ungestüm. Ich empfinde mich wie in einem Film, in dem ich plötzlich mitspiele.

Als wir zur Straßensperre gehen, sehe ich 50 m davor in einem Hauseingang ein leichtes Maschinengewehr mit zwei Soldaten, die mich mit unbewegtem Gesicht beobachten. Fein, auch das noch. Wenn die Möhre anfängt zu spucken, dann liegt der ganze Vorplatz hier flach. Der Unteroffizier grüßt mich straff. «Joh, Mahlzeit. Ich dachte, wir reden einmal miteinander, um die verkorkste Situation hier auseinanderzubringen, mh?»

Abrupt wechselt die Szene. Ein heller Piepton erfüllt den Raum, steigert sich zum Dauerton. Unbewußt holt meine rechte Hand aus, schlägt auf den Wecker, erwischt die Aus-Taste. Ich liege in meinem Bett, bin im Kopf immer noch an der Barrikade, bekomme nicht gebacken, was hier für ein Film abläuft. Ganz offensichtlich war das alles nur ein Traum. Ein Traum? Alles war so realistisch, so logisch. Ich meine immer noch, Jutta zu riechen, die auf dem Lkw neben mir hockt in ihrer Lederjacke und Jeans. Wie sie mich anschaute, als ich ihr erzählte, daß es das alles schon einmal gegeben hatte. «Schau doch nach vorn, Mann. Nach vorn. Hilf uns, mach mit.»

Jetzt, zwei Stunden später, sitze ich ungeduscht und unrasiert an meinem PC. Ich dachte, es ist vielleicht besser, wenn ich das alles aufschreibe, solange es noch frisch in meinem Gedächtnis ist. Langsam beginnt auch mein Verstand wieder zu funktionieren. Nur jetzt bloß nicht ins Grübeln kommen. Veröffentliche das Ding ganz schnell, sonst machst Du es eh nicht, weil Du Dich in Grund und Boden schämst, solche pubertären Träume zu haben.

Na gut. Hier. Lest es halt.
Wenn Ihr wissen wollt, wie es weitergeht, müßt Ihr mir das schreiben. Dann träum ich vielleicht nächste Nacht weiter. Jetzt gehe ich erst einmal duschen und rasiere mich. Eine Melodie kommt mir in den Kopf: «Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit. Reißt die Fahnen höher, Kameraden…» Aber ich werd’s nicht singen. Ist, glaube ich, von vorgestern*). Und ich singe lieber Lieder von heute und morgen.

*) Aufgrund zahlreicher Google-Suchen, die zu diesem Artikel führen, habe ich mich entschlossen, nähere Informationen zum o.g. Lied hier kurz aufzulisten.

  1. Kommentar by Sven — 17. April 2010 @ 11:04

    Gespenstisch. Weils sich so realistisch liest. Meinen Sie, das könnt so kommen? Klingt schon schlüssig. Unbedingt weiterschreiben sag ich mal. Ist sehr spannend.

  2. Kommentar by Holger S. — 17. April 2010 @ 11:06

    hallo herr kraus,
    schreiben können sie. das muss der neid ihnen lassen. aber sie haben auch im traum eine ganz schön abstruse fantasie. so was würde herr westerwelle niemals machen. oder doch? 🙂 wer ist jutta? neue liebe? 😉

  3. Kommentar by Preuße — 17. April 2010 @ 18:49

    Herr Westerwelle? Lieber Holger S., ich schreibe immer nur fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder auch toten Personen wären also reiner Zufall. Neue Liebe? Nein. Das möchte ich nicht mehr. Ich weiß ja, was dabei letztendlich rauskommt.

    Hallo Sven, niemand weiß, was uns die Zukunft bringt. Und das ist auch gut so. Aber daß das alles nicht mehr lange gut gehen kann… also das ist doch sonnenklar, oder nicht?

  4. Kommentar by Thomas Kersting — 19. April 2010 @ 22:44

    Tja, vielleicht geht es doch ohne Gewalt. Immerhin mehren sich die Politiker in unserem Lande, die bei solchen Szenarien ausrufen würden: „O weh, hoffentlich tun sich die süßen Jungs nicht weh!“ Andererseits ging hier bei mir in dem gemütlichen Stadtteil Bonns auch ein Junge zur Schule, von dem die Lehrer sagen, dass er unberechenbar ist: „Es war nie vorauszusehen, ob er eine gute oder eine schlechte Arbeit hinlegte“. Dass er später einmal Gockel werden würde, konnten sie auch nicht voraussehen.

    Es wird sich etwas ändern! Ich hatte schon bei der ganzen Klimadiskussion das Gefühl, dass wir auf diesem Wege auf massive persönliche Einschränkungen vorbereitet werden sollen, um uns nachher den großen Gau besser verkaufen zu können. Ob das profanum vulgus endgültig dem Kapital zum Fraß vorgeworfen werden soll oder tatsächlich nur für das Untergehen einiger Inseln bezahlen muss oder Afghanistan der Auslöser wird. Machen wir uns nichts vor. Das ständige Wirtschaftswachstum kann auf Dauer nicht funktionieren und endete bisher zwangsläufig immer im Krieg. Zuerst hakelt es (Wirtschaftskrise) und dann knallt es. Wir fühlen uns noch sicher im Geflecht der ganzen Bündnisse (EU, NATO…), haben aber nicht bemerkt, dass das Kapital schon lange keinen (greifbaren) Namen mehr hat und von dort die gesamte Macht ausgeht.

    Egal aus welchem Grunde alles zusammenbricht – und hier bin ich bei der Rota R70 angekommen und gehe sogar noch weiter: Der Ausbruch des Eyjafjallajökull-Vulkans zeigt uns drastisch die Verwundbarkeit unserer hochtechnisierten Welt. Als Nächstes könnte unsere immer noch schlafende Sonne – die ja im Moment die ganze Klimakatastrophe versaut hat – uns endlich wieder mit einer satten Ladung kräftiger Sonneneruptionen versorgen die nicht nur herrliche Polarlichter erzeugen: Die Magnetfelder der Sonnenstürme legen nicht nur Computer, GPS, Funknetze (Handy), Satelliten und somit die gesamte Kommunikation lahm, sondern auch die Energierversorgung. Die Kanadier saßen 1989 deswegen schonmal im Dunkeln.

    Die Medien der Kommunikation bedeuten Macht! Schlimmstenfalls gibt es noch nichteinmal mehr Strom – und dann? Dann sind „WIR“ da! Z.B. mein Vater hat 1946 aus dem Keller der Druckerei in Bonn einen Boston Tiegel geborgen. Er war mit einer Fliegerbombe vom Erdgeschoss in den Keller durchgebrochen. Es war zwar am Fuß des Tiegels ein Befestigungsloch ausgebrochen, doch das Gewicht und die drei anderen Löcher hielten den Tiegel stabil und es wurde gedruckt. Tausende von Mitteilungen, Karten und Gutscheinen wurden so tw. bei Kerzenlicht gedruckt und die Stadt begann wieder zu Leben durch den Einsatz der unermüdlich Schaffenden. Erstaunlich, dass unter diesen ersten Drucksachen auch Eintrittskarten für Konzerte waren, die reißenden Absatz fanden, obwohl die Konzerte improvisiert unter freiem Himmel im Hofgarten stattfanden. Selbst in schwersten Zeiten ist die menschliche Seele offen für die schöne Kunst.

    1988 noch hat mir ein Mitarbeiter der italienischen Staatsbahnen im norditalienischen Alessandria eine lange Reihe von Dampflokomotiven der Baureihe 640 gezeigt, sie wurde liebevoll „la Grazia“ genannt. Die Stangen waren abgenommen und alle Lager dick mit Fett konserviert. „Wenn uns hier die Kraftwerke für den elektrischen Strom zerbombt werden sind die Maschinen in eineinhalb Stunden einsatzbereit und wir müssen nicht verhungern“ hat er mir erklärt. Auch Russland, Finnland und andere Länder haben lange Reihen solcher Lokomotiven – als strategische Reserve bezeichnet – übers ganze Land verteilt konserviert und vorgehalten. Mittlerweile sind sie angeblich alle verschrottet!?

    Wir, liebe Kollegen, sind die „strategische Reserve“ unseres Landes. Haltet unsere Kunst hoch in dem Wissen dass sie gebraucht wird – hoffentlich nur zur Erbauung der menschlichen Seele für die schöne Kunst…

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