Preußisches Bleisatz-Magazin
Stimmungsbilder

Wish you were here & Erdbeermarmelade 2.118 views 4

Oder: Wie man Liebe in Worte fassen kann.

Ja, natürlich paßt es auch zu meinem akzeptierten Image des Nichtangepaßten… aber dennoch ist mir meine Vorliebe für süßen Rosinenstuten mit Sahnequark und Erdbeermarmelade etwas peinlich… doch der Reihe nach.

Ich bin das, was die rheinische Damenwelt anerkennend «’Nen Kerl wie’n Baum.» nennt. 1,85 m groß mit einem Kampfgewicht von 82 kg, das aufgrund meiner manchmal ungezügelten Fettsucht auch sehr schnell einmal die magische 100-kg-Grenze überschreitet, bis ich es im wahrsten Sinne des Wortes satt habe und wieder abnehme. Knurriges Gesicht — eigenartig, nur die Kleinsten lassen sich nicht täuschen. Sitze ich in einem Restaurant, so ist es nicht ungewöhnlich, daß unsicher tapsende Zwei- oder Dreijährige strahlend auf mich zuwanken und Tuchfühlung suchen. Ich kenne das gut und es stört mich überhaupt nicht. Ich muß lachen. Auch über die ängstlich-besorgten Gesichter der jungen Mütter, die befürchten, ich fühle mich belästigt.

Kulinarisch mag ich es gern süß. Ich mag Kuchen, Naschwerk, kleine Tröster. Und zum Frühstück, zumindest an den Wochenenden, halt Rosinenstuten mit Quark und Marmelade umd vielen Tassen voll mit süßem, schwarzem Kaffee — auf’s Frühstücks-Ei kann ich verzichten. Aber zu einem Marzipan-Croissant als Abschluß sage ich selten nein. So bin ich jetzt, so bin ich schon immer gewesen.

Ab Mitte der 80er Jahre war ich beruflich sehr viel unterwegs. Häufig auch in den VSvA (für Anglophile: Vereinigte Staaten von Amerika). Ich liebe die Landschaften dort, mich faszinieren die Städte, ich mag die einfachen, freundlichen Menschen. Wobei: Für mich gibt es keinen größeren Gegensatz als das System der USA und ihre Menschen. Diese Aussage ist gar nicht so absurd, wie sie zunächst klingt. Sie zeigt nur die immer größere Diskrepanz zwischen den Herrschenden der Systeme unserer Welt und den von ihnen beherrschten Menschen.

Zu Beginn des Jahres 1990, ich arbeitete im Software Engineering-Bereich des damals führenden Herstellers von Redaktionssystemen für Zeitungs- und Zeitschriften-Verlage, Atex, einer deutschen Töchter des Kodak-Konzerns, wurde ich zum verantwortlichen Projektleiter für die auf der Drupa 1990 im Mai desselben Jahres vorgeführte neue Software bestimmt. Für mich als Düsseldorfer ein angenehmes Heimspiel, denn das Messegelände befand sich Luftlinie fünf Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Das wiederum bestand aus Ehefrau, mir und der gemeinsamen Tochter, die damals knapp zweieinhalb Jahre alt war.

Schon im Januar flog ich nach Boston, Mass., um mich in dem nahe gelegenen Headquarter des Konzerns, in Bedford, in die neue Software einzuarbeiten. Die Drupa ist mein berufslebenlang die wichtigste Veranstaltung unserer Branche, der Druckvorstufe, gewesen, ja, ist es noch heute. Hier trifft sich, wer in der Branche Rang und Namen hat. Aber genau so die Ausubildenden und das Lauf-Publikum, bepackt mit umfangreichen Paketen zusammengerollter Plakate unter dem Arm. Präsenz zu zeigen, ist Pflicht. Allein das Personal auf dem Stand meiner Firma umfaßte rund 200 eingeflogene Amerikaner und bestimmt noch einmal soviele Kollegen aus dem europäischen und asiatischen Ausland. Wir wußten: Alle amtierenden Zeitungsmogule würden zu uns kommen, vom Springer-Verlag im hohen Norden bis zur Süddeutschen Zeitung im Süden. Ich liebte meine Arbeit, die Verantwortung, das Adrenalin, das einschießt, wenn während einer Vorführung bisweilen nun einmal ein Malheur passiert. Und ich fürchtete, wie alle vom Standpersonal der Hersteller, die Temperaturen, die traditionsgemäß zur Drupa die 30° Celsius überschritten und uns in unseren Anzügen mit hochgeschlossener Krawatte dampfen ließen. Die leicht amüsierten, leicht mitleidigen Blicke der Fachbesucher von Bertelsmann oder der WAZ, deren Technikleitung uns Projektleitern durch viele gemeinsam durchgearbeitete Tage und Nächte bestens bekannt waren und die selbstverständlich im kurzen Sommerhemd am Stand erschienen, tröstete da wenig. Aber auch das gehörte halt zum Job, war unumgänglich.

Nie werde ich die Reaktion meines britischen Kollegen Ron Height während einer Vorführung für die Geschäftsleitung der «Alten Tante WAZ», wie Insider das große Zeitungshaus aus Essen nennen, vergessen, als sich das System aufhängte. Während ich im Hintergrund als System-Admin wie wild das System herunter- und wieder herauffuhr, spielte Ron den Clown, um Zeit zu schinden «Uh… I lost my bloody cursor». Woraufhin sich Herr Widbor, der damalige Leitende der WAZ-Druckvorstufe, der wortwörtlich  zur tobenden Wildsau werden konnte, wenn einmal etwas nicht exakt so verlief, wie er das zuvor gewünscht hatte, hilfsbereit und würdevoll auf die Knie begab und unter dem Vorführtisch half, den vermeintlich heruntergefallenen Cursor zu suchen. Im Nachhinein denke ich, er spielte einfach nur mit, zeigte sich menschlich. Etwas sehr seltenes bei ihm.

Die rund sechswöchige Arbeit in Bedford war anstrengend, aber äußerst interessant und lehrreich gewesen. Der Austausch mit den amerikanischen Kollegen ging häufig bis in die Nacht hinein. Von Neuengland habe ich bei diesem Aufenthalt so gut wie nichts gesehen, wir haben rund um die Uhr gearbeitet. War ich längere Zeit dort drüben in den Staaten, so überkamen mich regelmäßig animalische Gelüste nach deutschem Brot und meinen französischen Zigaretten. Mit Mühe und Hilfe einer deutschstämmigen Hotel-Mitarbeiterin fand ich eine deutsche Bäckerei in einem der heruntergekommenen Viertel Bostons, die «real deutsh bread» anboten. Die Gauloise dagegen findet man so gut wie immer in den Rotlicht-Vierteln der Städte. Also machte ich alle paar Tage eine 60 Meilen-Tour nach Boston und zurück, um mich einzudecken. Fakt ist: Mit unserem Brot konnte die Bakery dort nicht mithalten. Und so entwickelte ich eine Fixierung. Ich begann — übrigens auf englisch, wie immer, wenn ich längere Zeit in den Staaten verbrachte — von Rosinenstuten mit Quark und Erdbeermarmelade zu träumen. Nichts schien mir süßer, verheißungsvoller, lockender. Das Träumen auf englisch ist sehr anstrengend, wenn man sich zwar in seinem Fachjargon fließend in dieser Sprache ausdrücken kann, einem aber ansonsten sehr viele Vokabeln aus dem Alltag fehlen. Was, zum Teufel, heißt Rosinenstuten auf englisch? Ich weiß es bis heute nicht. Aber im Traum damals hat es prima funktioniert.

Wie immer damals, erwartete mich meine Frau nebst kleiner Tochter bei meiner Rückkehr aus den Staaten am Flughafen. Wir waren einige Jahre zuvor bewußt aus der Innenstadt von Düsseldorf  in ein Haus in die Nähe des Flughafens gezogen. Ich war ja an rund 160 Tagen im Jahr in irgendeinem europäischen Zeitungshaus, um Software zu installieren oder halt bei Atex in den Staaten, um Lehrgänge oder andere Veranstaltungen im Stammhaus zu absolvieren.

Eine solche Arbeitsweise muß keinesfalls eine Belastung für eine Ehe sein. War sie zumindest für uns mich nicht. Die häufige Abwesenheit von Zuhause war halt der Preis, den die Familie dafür bezahlte, ein finanziell abgesichertes und angenehmes Leben zu führen. Mir selbst war das Geld, das ich verdiente, ziemlich schnurz. Ich sah die Entlohnung wie eine Art Zeugnisnote an. Je mehr ich verdiente, desto objektiv wertvoller war ich für den Konzern, sonst hätte der das Geld nicht herausgerückt. Wir waren ein eindeutig sehr elitärer Haufen damals in der Abteilung. Wurden mit Geld und Spesen gefüttert, übernachteten grundsätzlich immer nur am ersten Hotel am Platz. Wir waren einfach besser als die anderen — und das wußten wir ganz genau. Das Gehalt ermöglichte dann nebenher ein sehr angenehmes Privatleben, wenn man halt einmal zu Hause war. Ansonsten durfte ich genau das machen, was mich brennend interessierte und bekam auch noch Geld dafür. So war meine Einstellung damals.

War ich daheim, wollte ich von Alltagsproblemen nichts wissen. Ich war ja sowieso am Montag wieder weg und da war es schon besser, wenn meine Frau die Entscheidungen für unser Familienleben traf. Problematisch wurde es für mich erst, als im Oktober 1987 die Tochter auf die Welt kam. Mit geballten Fäusten, vor Wut und Empörung rot angelaufenem Gesicht. Im Nachhinein kann ich das verstehen. Wer verläßt schon gern die warme, weiche Höhle in diese kalte, schreckliche Welt, mh? Sie war, nein, sie ist eine «Papa-Tochter». Ein Abbild meines eigenen Charakters mit all seinen Ecken, Kanten, Fehlern und Tugenden. Ja, richtig: auch Tugenden. Sie selbst formulierte es viel später einmal so: «Wir sind wie zwei Seiten derselben Münze.» So ist es.

Als sie das erstemal Papa sagen konnte und mir das über’s Telefon lautstark mitteilte, lag ich auf einem Hotelbett in Ft. Lauderdale, Florida, wo ich von meinem Arbeitgeber für einige Wochen an unseren Kunden, die Zeitung Sun Sentenial ausgeliehen worden war, die den Ganzseiten-Umbruch, mein Spezialgebiet, einführen wollte und heulte daraufhin Rotz und Wasser vor Sehnsucht nach ihr und Heimweh. Um nun auch richtig im Selbstmitleid suhlen zu können, hörte ich dazu die Übertragung eines Pink Floyd-Konzertes und sang das Lied «Wish you were here» mit. Damals nicht verstehend, daß es dort überhaupt nicht um eine Liebesgeschichte geht, sondern, je nach Interpretation, um eine vielleicht LSD-getränkte abstrakte Selbstanalyse der Gedankenwelt des Sängers. Naja, egal. Nichts wirkt sentimentaler beim Weinen als «Wish you were here».

Diesmal war das Wiederkommen anders. Während meiner letzten Abwesenheit hatte ich begriffen, was mir meine Ehefrau zuvor schon gesagt hatte — und dieses einemal hatte sie recht: Ich liebte meine Arbeit. Aber viel mehr noch liebte ich meine Familie. Niemand würde mir später die Zeit ohne meine Tochter zurückgeben können. Ich mußte eine Entscheidung fällen, die im Grunde genommen gar keine war: Familie oder die Arbeit? Klar: Familie. Und so kam ich nach Hause mit einem Wissen, das ich noch mit niemandem teilte; nicht mit meiner Frau, nicht mit meinem Chef; mit niemandem.

Auf dem Weg nach Hause bat ich meine Frau, beim Bäcker vorbeizufahren und besorgte dort den so lange vermißten Rosinenstuten, Quark und Erdbeermarmelade. Eigentlicht hätte ich wegen der Zeitumstellung schlafen müssen, aber ich wollte erst frühstücken. Zu lange hatte ich mir einen Film gefahren wegen dieses blöden Rosinenstutens. Und so saß ich mit meiner Tochter auf dem Schoß am Küchentisch, erzählte ihr vom großen Amerika und ich schwöre: Sie verstand jedes Wort. J.D. Salinger läßt seinen Protagonisten Seymour Glass in der Erzählung «Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute» auf die Frage des jüngeren Bruders, ob es denn wirklich Sinn mache, der sechs Monate jungen gemeinsamen Schwester Franny Texte von Laotse vorzulesen, antworten «Sie hat Ohren». Ich liebe J.D. Salinger aufgrund eben solcher formulierten Weisheiten. Meine Tochter hatte Ohren, also würde sie meine Geschichten aus Amerika auch mitverfolgen können. Währenddessen stopfte ich ihr kleines Mäulchen mit Stutenstücken nebst Quark und Erdbeermarmelade voll. Denn ich bin ein Pragmatiker. Sicherlich sprach Seymour weise, aber Rosinenstuten mit Quark und Erdbeermarmelade sind eben auch ein sehr überzeugendes Pro-Argument, glauben Sie mir, bitte.

Es sollte noch über ein Jahr dauern, bis ich aus dem Unternehmen ausschied. In einer solchen Position konnte man nicht von heute auf morgen aufhören. Projekte mußten beendet oder aber sauber übergeben werden, Verpflichtungen waren einzuhalten. Aber die Entscheidung an sich war gefallen. Für die Tochter und gegen den Job, den ich auch heute, nach 40 Berufsjahren als Angestellter und Selbständiger, als den besten empfand, den ich je gehabt habe. Zwar habe ich dieser Arbeit noch einige Jahre hinterhergeweint, aber bereut habe ich meine Entscheidung nie. Ich erlebte, wie sie aufwuchs — zusammen mit dem Sohn, der mir vier Jahre nach ihr geschenkt wurde. Sie brachte mich im wortwörtlichen Sinne zur Weißglut, als sie sich — genau wie ich in meiner Zeit — an mir und ihrer Mutter erprobte und sich von uns freikämpfte, zur eigenen Persönlichkeit formte. Im Reflex langte ich ihr eine, als sie neben ihr auf der Treppe meine Frau, ihre Mutter, derb beschimpfte. Niemand spricht jemals so mit meiner Frau. Niemand. Und ich heulte mit ihr zusammen wegen der Demütigung und dem Schmerz, den wir einander zugefügt hatten. «Willst Du wirklich alle beschissenen Fehler meiner eigenen Jugend nachleben?», fauchte ich sie an, als ihr selbstbestimmter Lebensweg bisweilen gefährliche Formen annahm. Und siehe da: Sie ist intelligenter als ich. Sie hörte zu, reflektierte, lernte. Und immer sie selbst bleibend, entwickelte sie sich zur eigenen Persönlichkeit. Mit Kanten und Ecken. Eigenwillig bis zum Trotz, emotional aus dem Bauch entscheidend, Trends erkennend und nicht befolgend, eigene Werte entwickelnd. Wie? Oh, ja. Ich bin ganz furchtbar stolz auf sie. Ich fütterte sie in ihrer frühen Jugend, eiskalt manipulierend, mit geeigneter Literatur. Jack Kerouac, William S. Burroughs, Salinger und Tschechov. Vermied Erziehung, lebte lieber vor. Wollte ihren Willen nicht brechen. Schritt nur ein, wenn es mir als absolutes Muß erschien. Und selbst dann mit schlechtem Gewissen.

Heute ist sie erwachsen. Ein ganz eigenes Stück Mensch. Wir haben gemeinsam den Dreh hinbekommen von der Papa/Kind- zur Papa/erwachsene Tochter-Beziehung auf Augenhöhe. Was bringt mir im Nachhinein mein Login bei der London Times? Das sind nur noch verblassende Erinnerungesphotos aus einem Rechnerraum und eine spannende, aber längst vergangene Erfahrung; mehr nicht. Das hier ist wichtiger und richtiger. Dafür bin ich dankbar. Ich weiß nicht, wem. Ihm da oben. Ja. Ihm.

  1. Kommentar by Hannah — 26. März 2010 @ 13:05

    *perplex guck* Auf einmal wird mir klar, warum ich auf Rosinenstuten mit Kwark und Erdbeermarmelade steh Oo Das hättest du mir schon vorher sagen können!
    : )

  2. Kommentar by floppy — 26. März 2010 @ 17:39

    wow, welch ein story. Fazit: ich denk, Ihr könnt völlig zu recht stolz aufeinander sein. Du hast eine supi Tochter und Deine Tochter einen supi Vater. Hoffe nur, dass die schlechte Angewohnheit naschen (da warste wahrlich kein gutes Vorbild) nicht auch bei Deiner Tochter zum berühmten Jojo-Effekt führt.
    Rosinenstuten – mmmmmmmmmmhhhhhhhhhh, am besten noch warm (selbst gebacken) und die Erdbeermarmelade selbst gekocht. Bei der Erdbeermarmelade ein kleines Minzblättchen nicht vergessen und ein Teelöffelchen Rum. Darf Deine Tochter ja jetzt schon essen, da sie aus den Windeln raus ist.
    Liebe Grüße aus dem sonnigen Bärlin.
    Floppy

  3. Kommentar by Sven — 27. März 2010 @ 20:43

    Hallo Herr Kraus,
    Sie überraschen mich. Wieder einmal. Ich hatte nicht erwartet, daß Sie so etwas gefühlsmäßiges schreiben können. Man liest wirklich die Liebe heraus. Und trotzdem männliche. Wirklich schön.
    Sven

  4. Pingback by aHeadwork » Blog Archive » Stolz — 21. August 2010 @ 18:11

    […] liege also im Bett, klammere mich an meiner Bettdecke fest und lese seine Blogartikel, um zu finden, worauf er so stolz war und weine noch mehr, weil ich seine Stimme […]

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