Preußisches Bleisatz-Magazin
Krupp 17

Mein Fußball-Sommer 1966 3.221 views 1

Franz Beckenbauer, Lothar Emmerich, Jürgen Grabowski, Helmut Haller, Siegfried Held, Horst Dieter Höttges, Wolfgang Overath, Karl Heinz Schnellinger, Willi Schulz, Uwe Seeler, Hans Tilkowski und Wolfgang Weber sind mir ins Gedächtnis gemeißelt. Weltmeisterschafts-Finale 1966 England gegen Deutschland. Was für ein Spiel. Ich war elf Jahre jung, hing gemeinsam mit dem Vater und meinem Onkel Günther gebannt vor dem Fernseher, als Geoff Hurst in der 101. Minute sein Nicht-Tor zum 3:2 für England schoß. Der Schock der Schiedsrichter-Entscheidung ging tief, ein weiteres irreguläres Tor zum 4:2 fiel (Zuschauer auf dem Platz). Aus. Das Ende.

«Geoffrey Hurst, 1998 von der britischen Königin Elisabeth II. zu „Sir Geoff“ geadelt, äußerte sich lange nicht zu dem Tor. Erst in seinem Buch „1966 And All That“ offenbarte er: „Die Deutschen hatten das Gefühl, dass Ihnen der angesehenste Preis im Weltfußball gestohlen worden war. Vielleicht war das geschehen. Sie glaubten aufrichtig, dass der Ball die Linie nicht überschritten hatte, und es könnte sein, dass sie Recht haben. Nachdem ich jahrzehntelang alle Argumente gehört und die Zeitlupenwiederholung Hunderte von Malen gesehen habe, muss ich einräumen, dass es so aussieht, als habe der Ball die Linie nicht überschritten. Es fehlt jedoch ein schlüssiger Beweis. Der Streit wird mich bis ins Grab begleiten.» Ja, scheiß drauf, Mann, blöder Sack. Ich weinte damals hemmungslos.

Gleich nach dem Spiel brachte Onkel Günther uns, meinen Vater und mich, nach Maaseik in Belgien, rd. eine Autostunde westlich von Düsseldorf gelegen. Mein Onkel besaß einen VW-Käfer, «feldgrau». Mir schien er reich. An ein Auto war in unserer Familie in dieser Zeit nicht zu denken. Gestört hat’s mich nicht. Hab‘ nie irgendetwas vermißt in meiner Kindheit.

Einer der großen Wünsche meines Vaters ging in Erfüllung: Einmal ein Vater/Sohn-Urlaub zu zweit. Ich selbst war damals skeptischer. Aber sein Versprechen, so ein richtiges «Männerding» mit mir durchzuziehen, lockte auch mich gewaltig. Die Familie meiner Tante machte Urlaub in Bayern, ihr Haus stand leer — gebongt. Das machen wir.

Meine Patentante Else hatte nach dem Krieg nach Belgien geheiratet, mein Onkel Mille ist mir — ich war ein kleiner Junge, bekam von dem ganzen Erwachsenenkram nichts mit — in sehr guter Erinnerung. Meinen dritten Vornamen habe ich von ihm: Georg, Peter (meines Vaters Name), Emil. Naja. Man kann sich nicht wehren bei der Namensvergabe, mh? Egal. Wenn sie auf Besuch nach Deutschland kamen, brachte er mir kleine Neger-Schnitzereien (Ja, die hießen halt damals so, da kann ich auch nichts für) aus Belgisch-Kongo mit und einmal ein echtes kleines, ausgestopftes Krokodil. Heute ist der Kongo ja zum Glück demokratisch. Den Belgiern haben sie Ende der 60er Jahre die Hälse durchgeschnitten und heute leben sie dort friedlich und in vollständiger Freiheit miteinander. (mir wird schon wieder übel). Mein Onkel Mille muß ganz offensichtlich noch eine andere, dunklere Seite seiner Persönlichkeit gehabt haben. Weshalb sich meine Tante dann auch von ihm trennte. Auch hier kann man wieder sehen, daß Wahrheiten subjektiv sind. Wobei ganz sicher die ihre schwerer wiegt.

Heute liegt Maaseik im Grunde genommen «um die Ecke». Dennoch sehe ich meinen Cousin Maurice, der dort lebt, sehr selten. Wie das halt so ist heutzutage. Jeder hat seinen eigenen Kram um die Ohren und bei einem Treffen gewinnt immer der, der als erstes dem anderen vorwirft «Du hättest Dich auch längst schon einmal melden können.». Vor ein paar Jahren fuhren wir mit meiner meiner Mutter und zwei ihrer Schwestern, darunter meiner Patentante Else, auf Besuch zu meinem Cousin. Landstraße, keine Autobahn, bitte. Gut, wie die Damen es wünschen. Je näher man hier im Westen Deutschlands der Grenze nach Holland oder Belgien kommt, desto idyllischer wird es — wenn man den niederrheinischen Flair mag. Sehr flach, viele Felder, kaum Wälder und sehr hübsche kleine Städtchen. Wir brauchten über zwei Stunden für die 100 km, verfuhren uns dann in Belgien. Meine Bemerkung «1940 haben unsere Jungs von der Panzertruppe auch Brüssel gefunden.», zog nicht so recht bei den älteren Damen. «Laß das bloß nicht Maurice hören.» Joh, joh… schon recht. Wir telefonierten uns dann zusammen und mein Cousin holte uns an einer markanten Straßenkreuzung ab. Seine erste Bemerkung: «1940 haben Eure Panzer keine Hilfe gebraucht, uns hier zu finden.» — Man sieht: Der skurrile Humor ist familienbedingt.

Das Haus meiner Tante lag einige Kilometer vor dem Städtchen, direkt gegenüber eines Bauernhofes. Ein großes Grundstück, auf dem mein elf Jahre älterer Cousin Kaninchen in einem Freigehege hielt, einem kleinen Hühnerstall mit drei oder vier Hennen und einem Nervsack-Hahn. Der Rest des Grundstückes bestand aus Wiese (Kaninchenfutter) und Obstbäumen. Es waren Nutz- und keine Haustiere. Das heißt: Es gab regelmäßig Kaninchenbraten. Das war (ist sicher heute genau so) keine große Sache. Der Cousin ging mit einem kurzen Knüppel und einem Kaninchen unter’m Arm in den Stall und kam nach 10 Minuten mit einem abgehäuteten Kaninchenbraten wieder heraus. Mehr weiß ich nicht, mehr wollte ich nie wissen. Beim Essen ist für mich Schluß mit lustig.

Es gab kein Fließendwasser, in der Küche stand eine Handpumpe im steinernen Spülbecken, im Hof war eine selbstgebaute Dusche angeschlossen. Grauslich war allein das Plumpsklo. Eine Art Eckbank mit einem Holzbrett, in das ein rundes Loch geschnitten war, welches mit einem Holzdeckel abgedeckt wurde. Öffnete man den Deckel, kamen hunderte von Fliegen aus dem Loch. Ich hätte kotzen können. Aber dann wären mir die Fliegen im Gesicht herumgekrabbelt. Naja. Irgendwie ging’s halt.

Ich glaube, ich bin drei Wochen lang nur in kurzer Hose und Sandalen herumgelaufen, genau wie der Vater. Er stand früh auf, machte Männerfrühstück: Eier mit Speck oder «Bauernfrühstück», also Bratkartoffeln mit Spiegelei. Weckte mich, zwang mich unter die kalte Dusche unter’m Vordach im Hof  (als Elfjähriger hielt ich Duschen für völlig überflüssig) und dann haben wir das Einmachglas mit den Würmern aus dem Kühlschrank geholt, den kalten Tee, den der Vater am Abend zuvor gekocht hatte, in Feldflaschen gefüllt und fuhren mit den Fahrrädern zum Angeln.

Maaseik liegt direkt an der Maas. Ich meine, da wäre auch noch ein Kanal gewesen. Ja, ich bin mir sicher. Es gab bzw. gibt dort einen. Und dann noch eine ganze Reihe Baggerlöcher, in denen längst kein Kies mehr ausgeschürft wurde, sondern die mit Grundwasser vollgelaufen waren und jede Menge Fische beheimateten. Fremdenverkehr im heutigen Sinne gab es damals nicht. Wir waren fast immer allein an den Seen, gingen zumeist auf Friedfische. Der Vater brachte mir bei, die gefangenen Fische waidgerecht zu erlegen und abends schuppte er sie, nahm sie aus und briet sie in der Pfanne. Beim Ausnehmen darf man die Galle des Fisches nicht verletzen, eine längliche, schlauchartige, weiße Blase. Sonst verdirbt das Fleisch sofort und ist nicht mehr eßbar. Den anglerischen Höhepunkt finden Sie auf dem Bild, auf dem mein Vater unseren stolzesten Fang hochhält: ein Hecht. Also ein Raubfisch. Mindestens 40 cm lang. Ja. Oder so. Er schlug an meiner Angel an, ich war zu aufgeregt und unsicher, um ihn einzuholen. Der Vater half mir und als der Fisch zappelnd im Gras lag, durfte ich ihn hinter den Kiemen halten und ihm mit der Rückseite der Schneide meines Finndolches mit zwei kurzen, harten Schlägen das Genick brechen. Weil ich ihn gefangen hatte, Mann. Ich ganz allein, mein Fang! Es war nicht der erste Fisch, den ich erlegt habe, aber es war der bis dahin größte. Ein aufregendes Erlebnis. Den Kopf von dem Hecht (ihn selbst haben wir natürlich gegessen) haben wir meinem Onkel Mille auf seine Werkbank gelegt. Wird wohl ein bißchen gerochen haben das Teil, als er nach drei Wochen wieder kam, mh… Er hat ihn dann präpariert und auf ein Stück Holz montiert. So hing er noch sehr viele Jahre lang in der Diele unserer Wohnung. Mutter war dagegen, wurde aber überstimmt bzw. ich guckte halt ganz unglücklich und so… wie Söhne das mit Müttern so machen.

Noch ein Wort zum Finndolch: Im Gegensatz zu Messern haben Dolche Schneiden auf beiden Seiten. Ursprünglich für den Kampf vorgesehen, dienen sie dem Stechen, erst nachrangig dem Schneiden, wie es die Aufgabe von Messern ist. Ich war lange Zeit St.-Georg-Pfadfinder.  Fahrtenmesser gehörten zu unserer Ausrüstung. Niemand von uns ging damit fahrlässig um. Sieht man einmal von den üblichen Jungenspielen im Zeltlager ab, bei dem sich zwei Kameraden  gegenüberstehen, die Messer neben des anderen Fuß werfen und dieser dann einen Ausfallschritt zu eben diesem Messer machen muß. Wer die Grätsche nicht mehr schafft, hat verloren. Der Finndolch war ein Geschenk meines Vaters. Ich habe es immer nur bei Fahrten oder solchen Angeltouren dabei gehabt. Also gibt es keinen Grund zur Aufregung. Wir sind halt völlig anders großgeworden als die heutigen Kinder. Leben aber noch, komisch, mh?

Die Abende verbrachte ich oft allein im Zimmer meines Cousins. Das hatte zwei Gründe: Eine meiner Bedingungen für die gemeinsame Reise war, daß ich lesen durfte, wann immer und wie lange auch immer ich wollte. Diese Bedingung hatte ich natürlich vor Beginn der Reiseplanung meiner Mutter gestellt, nicht dem Vater. Das wäre sonst nur wieder so ein Autoritäts-Ding geworden, wonach mir nicht war. Ich wollte nur lesen, sonst nichts. Diese und die Bedingung meiner Mutter: Georg duscht jeden Tag und einmal am Tag gibt es warmes Essen, versprach mein Vater hoch und heilig. So bekam er meinen und meiner Mutter Segen für die Reise. Maurice‘ Zimmer lag direkt unter dem Dach, war brütend heiß, die Luft stand im Raum. Aber ich konnte die Tür zumachen und war allein. Hinzu kam: Er besaß eine umfangreiche Sammlung von TWEN-Heften, die er natürlich nur wegen der «interessanten Artikel» kaufte. Mich dagegen reitzten die Artikel herzlich wenig, ich schaute mir die Bilder an.

Einmal ging etwas schief. Ich leide natürlich heute noch darunter, aber meine Therapeutin sagt, noch etwa 16 Doppelstunden und ich bin darüber hinweg. Wir fuhren mit den Rädern an der Maas entlang flußabwärts, dorthin, wo die Maas kurz hinter Maaseik einen scharfen Knick nach Osten macht. Am Ufer lagen, wie auf Perlenschnüren aufgezogen, etwa sechs oder sieben vertäute Frachtschiffe, deren Stahltrossen, 8—12 cm über dem Boden schwebend, etwa 20 m landeinwärts an dicken Pollern festgemacht waren. Die Fahrräder damals waren keine Sportgeräte wie heute, sondern schwere Velos, wie man in Belgien sagt. Zerschrammt, mit Kettenschaltung, Damenräder. Wir hielten kurz. Entweder mußten wir die Böschung hoch und zu Fuß, die Räder tragend, die Barriere umgehen, oder…

«Paß auf, Sinnek (Söhnchen). Das ist kein großes Problem. Wir haben das im Krieg in der Radfahrer-Kompanie oft so gemacht. Du mußt ruhig und gleichmäßig fahren und wenn das Stahlseil kommt, dann stellst Du die beiden Pedale einfach waagerecht. Das Vorderrad drückt dann das Stahlseil ein bißchen nach unten, wenn Du drüber fährst, es huppelt zweimal und fertig. Du mußt nur aufpassen, daß die Pedale nicht senkrecht stehen, sonst verhakt sich die untere und dann hast Du ein Problem.»

Schluck. Joh. Als angehender Gymnasiast und anerkannte Intelligenzbestie der Familie verstand ich das Problem und die physikalische Lösung sofort. Der Vater brachte bestimmt seine 85 kg auf die Waage, ich war ein elfjähriger Junge mit, ich weiß nicht, weniger. Allein… aber der Alte ließ mir keine Zeit zum Denken und fuhr los. Ich hatte nun genau zwei Möglichkeiten: Stehenbleiben und losflennen oder hinterherfahren. Der Vater hatte bereits alle Stahlseile erfolgreich überfahren. Genau, wie er es zuvor erklärt hatte. Nein, aus mir würde niemals ein Brückenbauer werden. Ich hielt die Pedale natürlich vertikal statt horizontal. Die rechte hakte sich am ersten Stahlseil fest, es straffte sich, federte zurück und ich wurde ein paar Meter, mit dem Rad halb unter mir, über den Schotter gezogen.

Nein, es war nicht schlimm. Ich kann mich an keinen Sommer meiner Kindheit erinnern, in dem ich nicht mit aufgerissenen Knien herumlief. Das war halt so. Das Fahrrad hatte auch nichts abbekommen, die Kette war abgesprungen. Meine Tante hätte nur gesagt «Ooch, ist doch nur ein Velo.» und mein Cousin hätte es wieder repariert. Es war das Brüllen meines Vaters, das mich entsetzte. Ich erwartete genau das und es kam. Und wie immer wurde ich starr vor Angst und Panik. Mönsch, konnte der Alte mit den Augen rollen, wenn er wütend wurde. Knallroten Kopp und pure Drohung in den Augen. Ich habe dann erst einmal zwei Tage lang nicht mit ihm gesprochen. Ja, richtig: Liebesentzug. Funktionierte immer bei ihm. Danach war er weichgekocht und machte uns einen Riesentopf mit Vanillepudding mit Obst. Das war dann seine Art der Entschuldigung. Er mochte keinen Vanillepudding. Aber man warf damals kein Essen weg. Also aß er. Ich dagegen mag Vanillepudding sehr und nahm deshalb die Entschuldigung, gnädig gestimmt, an.

Ich weiß gar nicht, wie oft ich danach noch in Urlaub gefahren bin. Aber diesen habe ich nie vergessen. Es kam noch einmal dazu, daß Vater und ich alleine wegfuhren. Da war ich 19 Jahre jung und wir fuhren nach Polen, wo ein Teil meiner Verwandtschaft bis heute in den deutschen Ostgebieten wohnt, in Posen. Aber davon erzähle ich vielleicht ein anderes mal.

Das erstes Photo zeigt mich übrigens am Tage unserer Abfahrt, dem WM-Endspieltag. Mir fällt gerade auf, daß ich damals, mit elf Jahren, genau dieselbe Frisur trug wie heute: Fassonschnitt. Granatenkurze 3 mm an den seiten, langes Haupthaar. Sieht doch gut aus, mh? 🙂

  1. Kommentar by Preuße — 11. Juni 2010 @ 12:48

    Ich glaube, beim Aufbau dieses Artikels habe ich, ohne es zu wollen, eine klassische Abseitsfalle geschaffen. Die eine Hälfte der Leser liest im Anreißer nur die Aufzählung der WM-Elf-Spieler von 1966, interessiert sich nicht für Fußball und klickt weiter. Die andere Hälfte mag Fußball, ruft den Artikel auf und merkt schnell, daß es gar nicht um Fußball geht — und klickt weiter.

    Ja, toll. Die Abrufzahlen des Artikels sind deutlich niedriger als die anderer Erzählungen, obwohl ich die Erzählung als eine der weniger schlechten ansehe, die ich geschrieben und hier veröffentlicht habe.

    Nein, wirklich wichtig ist mir das nicht, denn ich schreibe zunächst einmal für mich selbst. Aber es ist interessant, die Mechanismen zu erkennen, nach denen so eine Erzählung in der Außendarstellung funktioniert.

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